Die Tragik der Ampelmännchen

Foto: Georg Kronenberg

Ich wollte auch die Buchstaben tanzen lassen und bewarb mich für ein Stipendium an unserer Schule, um einen solchen Workshop mitmachen zu können. Ende Juli war es dann endlich soweit. Es ging für eine Woche nach Hessen ins schöne Marburg. Der Kurs fand im Rahmen der 33. Marburger Sommerakademie für Darstellende und Bildende Kunst statt und mein Kursleiter hieß Lars Ruppel, einer der erfolgreichsten ,,Slammer“ unserer Zeit. Eine Woche lang jonglierten wir mit Worten, schrieben Gedichte, Zungenbrecher, Anagramme,  gingen auf Synonymsuche, machten Stimmübungen und schrieben Briefe an uns selber. Wir liefen durch das märchenhafte Marburg auf der Suche nach Inspiration. Jeder suchte sich eine Stelle aus, auf der wir eine Stunde allein verweilten und die Umgebung auf uns wirken ließen. Ich ließ mich vor einer Ampel nieder und beobachtete eine Stunde, wie sie hypnotisierend von Grün auf Rot schaltete. Anschließend schrieb ich eine Kurzgeschichte über die Tragik des Ampelmännchen-Daseins. Es entstand ein witziger Dialog zwischen dem unbeliebten roten Ampelmännchen und dem eitlen, angeberischen grünen.Foto: Georg Kronenberg Die Geschichte gewann in Anspielung auf die Menschen an philosophischer Tiefe. Die Ampelmännchen erfüllen Tag ein, Tag aus ihren Zweck, tun ihre Pflicht, funktionieren, weil sie es einfach schon immer getan haben. Doch eines Tages beginnt das rote Männchen, von einer Welt außerhalb zu träumen, es beginnt zu zweifeln und tut am Ende der Geschichte etwas Revolutionäres: Es bricht aus, verlässt den runden Kreis, in dem es lebt. Wenn man schreibt, bricht man auch aus. Ausbrechen mit System. Ich entdeckte die Vielfältigkeit der Sprache, denn Sprache ist wie Ton, immer neu formbar. Von besonderer Wichtigkeit ist auch die Verbindung zwischen dem Poeten und dem Zuhörer. Beim Poetry Slam geht es darum, den Zuhörer schnell zu fesseln, man hat ca. 5 Minuten Zeit, seinen Text vorzutragen. Das hat den Grund, da in unserer mediatisierten Welt, die Konzentrationsspanne der Menschen sich stark verkürzt hat. Poeten versuchen, die Menschen zu erreichen.

Bei dem Workshop stellten wir einmal Nachrichtenkonfetti her. Das sind kleine Zettel, die mit Sprüchen, Wörtern, Witze, Zitate oder Weisheiten versehen sind. Diese Zettelchen ließen wir in fremde Taschen fallen, legten sie auf Bänke und verteilten sie in der Stadt, um die Marburger mit schönen Wörtern zu verzaubern. Zum Ende der Woche hin wurden wir in Dreier-Gruppen eingeteilt, um gemeinsam etwas zu dem Thema „Eine Minute“ zu erarbeiten. Aus unserer Gruppenarbeit entstand folgende Szene: Ein junges Mädchen erleidet einen Herzstillstand und bricht an einer Bushaltestelle zusammen. Eine Passantin ruft den Notarzt. Jeder in meiner Gruppe nahm die Rolle einer der drei Personen an und schrieb einen Text über die Minute, in der der Notarzt das Mädchen wiederzubeleben versucht. Es entstand eine emotionale Geschichte, in der die Sichtweisen der Personen geschildert wurden: die ernüchternde, sachliche Sicht des Arztes, die ergriffene, geschockte Sicht des Passanten und die Sicht der Sterbenden, die außerhalb der Realität steht und sich entscheiden muss.

Am letzten Tag trugen wir diesen Text beim Akademiefest vor und bekamen viel Lob und Beifall vom Publikum. Im Ganzen ist es schwer, eine so vielfältige Welt in einen kleinen Artikel zu komprimieren. Doch war diese Reise eine großartige Erfahrung für mich. Ich hatte die Möglichkeit, eine Woche unter Literatur-verliebten Menschen zu verbringen. Ich durfte schreiben, vorlesen, habe Feedback bekommen und durfte anderen Poeten zuhören. Und wie unser Kursleiter einst sagte: ,,Jeder Mensch hat Gedanken, doch nicht jeder Mensch schreibt. Ist das nicht seltsam?“

Chantale R., 12e