Wer bin ich?

Kurze Frage – kurze Antwort ... denkt man. Aber alle Versuche, auf diese Frage eine Antwort zu finden, führen über kurz oder lang zu der Frage „Wie bin ich?“.

Ich bin vielleicht klein, interessiere mich für Sport, habe dunkle Haare, bin ein optimistischer und lustiger Typ, zumindest manchmal (wenn ich gut drauf bin), sonst bin ich auch schüchtern. Ja. Ich habe beschrieben, WIE ich bin, aber nicht WER ich bin. Wer bin ich also? Und wie werde ich ICH?

Diese Fragen sind deshalb so schwer zu beantworten, da sie nach unserer Identität fragen, d.h. nach unserer ganzen Persönlichkeit, nach den Dingen also, die uns ausmachen und von allen anderen unterscheiden. Dass jeder Mensch einzigartig ist, ist zumindest biologisch nachweislich belegt. Haben wir doch alle einzigartiges Erbgut, einen einzigartigen Fingerabdruck, der uns als einzigartiges Wesen ausweist.

Wenn wir zur Welt kommen, unterscheiden wir uns nicht sonderlich. Klein und hilflos waren wir alle- und wunderbar gedankenlos. Während unserer Zeit im Kindergarten fiel es uns niemals ein, andere Menschen zu beurteilen. Neid und Missgunst waren uns unbekannt, wir spielten recht wahllos mit beinahe jedem und es war durchaus möglich, sich an einem Tag zu prügeln und am nächsten friedlich die Spielsachen auszutauschen. Vielleicht lag diese kindliche Naivität und diese Verträglichkeit einfach daran, dass man über die eigene Person kaum nachdachte.

Spätestens mit dem Einsetzen der Pubertät macht sich der Mensch plötzlich vermehrt Gedanken um sich selbst. Man fragt sich plötzlich Dinge wie „Wie wirke ich auf andere?“, oder „Was macht mich aus?“. Man wünscht sich außergewöhnlich zu sein und es entwickeln sich Gefühle wie Neid, da man eben auch vergleichend auf andere blickt, um herauszufinden, wie man selbst im Gegensatz zu ihnen abschneidet.

Jeder hat schon einmal zu einer schillernden Persönlichkeit aufgeblickt, neben der man sich unscheinbar und einfach wie irgendjemand unter vielen gefühlt hat. Man wollte etwas Besonderes sein. In anderen Situationen wollte man das Gegenteil, nämlich „dazugehören“, auf keinen Fall auffallen. In Gesellschaft wird oft wenig Wert auf Individualität gelegt. Durch negativ belegte Begriffe wie „Außenseiter“, „Freak“, „Streber“ wird der Individualitätsdrang einzelner Personen, der Neid und Konkurrenzdruck bei Gleichaltrigen provoziert, unbewusst zu bekämpfen versucht und ihre Einzigartigkeit als etwas Schlechtes dargestellt.

Plötzlich wird es auch wichtig, sich selbst zu inszenieren. Viele Jugendliche tun dies, indem sie sich als Teil einer Gruppe oder Lebenseinstellung fühlen und dies oft auch durch Kleidung, Frisur und plötzliche neue Gewohnheiten (z.B. komplett gewandelter Musikgeschmack) zu demonstrieren versuchen. Dies ist ein Versuch, sich selbst als eigenständiges Wesen und dennoch Teil einer akzeptierten Gruppe darzustellen, da die Angst besteht, als Einzelperson nicht akzeptiert zu werden. Der Widerspruch zwischen dem Wunsch dazuzugehören und dem Drang aufzufallen dominiert die gesamte Suche nach dem „Ich“ und macht sie so kompliziert. Auch innerhalb der Familie kann es zu Kontroversen kommen, da meist eine ablehnende Haltung den Eltern gegenüber an den Tag gelegt wird, ihre Ansichten und Entscheidungen „uncool“ sind und meist von vornherein angezweifelt werden. Diese intensive Phase der Identitätssuche beginnt zwischen dem 11. und 13. Lebensjahr. Es ist eine stressige Zeit, die leider oft von Oberflächlichkeiten geprägt scheint und z .B. Beziehungen innerhalb der Familie oder Leistungen in der Schule in Mitleidenschaft zieht.

Dennoch ist diese turbulente Phase für einen ersten Schritt in Richtung einer eigenen Identitätsfindung, was eine Loslösung von den behütenden Eltern bedeutet, unentbehrlich, da die äußeren Anzeichen, d.h. die Rebellion der Jugendlichen, Indizien für eine innere Wandlung sind. Es wird viel ausprobiert, um die eigenen Vorlieben und nicht zuletzt auch die eigenen Grenzen zu erfahren, man erkundet neue Interessengebiete und findet vielleicht sogar Hobbys, die das Leben nachhaltig verändern. Man liest Bücher oder sieht Filme, die großen Eindruck hinterlassen. Bestimmte Erlebnisse, sei es durch Freunde, in Sachen Liebe oder auch unangenehme Erfahrungen wie Streit, Hass und Gewalt prägen den jungen Menschen in dieser Zeit. Überhaupt spielt im Hinblick auf Emotionen vieles verrückt, man schwankt oft zwischen den Extremen „himmelhoch jauchzend“ und „zu Tode betrübt“.

Das Austesten von Extremen ist jedoch, so nervig es auch für die Umgebung sein mag, genauso essenziell wie alle anderen Erfahrungen dieser Zeit, da ohne sie eine Entwicklung kaum stattfinden kann und aus den kleinen Kindern von damals keine vernünftigen Menschen mit Eigenverantwortung heranreifen könnten.

 Sicherlich ist die eigene Identität am Ende der Pubertät noch nicht ausgereift. Man lernt sein Leben lang und entwickelt seine Persönlichkeit ständig weiter. Keiner erwartet von einem Jugendlichen von 18 Jahren, bereits alles über sich zu wissen und es zu Reife und absoluter Charakterstärke gebracht zu haben. Wozu man am Ende der Identitätsbildungsphase aber in der Lage sein sollte, ist, in wichtigen Situationen die für einen selbst passende Entscheidung treffen zu können, ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt zu haben und zu wissen, wo die eigenen Neigungen und Vorlieben liegen.

Das ist schon einmal ein Anfang, und vielleicht gelingt es uns ja doch eines Tages, den wichtigsten Menschen in unserem Leben wirklich kennen zu lernen: uns selbst!

Rosalie W., 13. Jg.