Zwischen Ost und West
Sommer 1989. Ich werde in drei Monaten 12 Jahre alt und mag mein Leben in der DDR sehr gern. Das liegt sicher auch an der Stadt, in der ich lebe, wo man so vieles machen kann: Berlin mit seinen leicht verfallenen Häusern und Straßenzügen – ideal zum Spielen; meine Kindheit spielt sich viel draußen ab: Rollschuhfahren um die Blocks im Sommer, Schlittschuhlaufen im Winter, Eis essen in der Mokka-Milch-Eisbar, ab und an ins „Theater der Freundschaft“ oder auf den Fernsehturm gehen, vor allem ins Café nach ganz oben, das dreht sich nämlich. Langweilig ist mir nie und eingesperrt fühle ich mich erst recht nicht. Ich darf sogar seit drei Jahren allein mit der U-Bahn zur Schule fahren. Die Schule ist in Ordnung, denn da passiert auch immer viel. Mit der Klasse, die eine richtige Gemeinschaft ist, treffen wir uns immer mittwochs, zweimal im Monat am Nachmittag, und laden uns Leute ein, die vom Krieg erzählen oder von Gorbatschow aus Russland berichten. Aber normale Sachen wie Theater oder Feiern machen wir auch. Daher gibt es mittwochs nie Hausaufgaben auf, staatlich verordnet sozusagen. Nur eines finde ich seltsam: Einmal im Monat erzählt uns ein Mitschüler, der von einer Besprechung mit anderen Mitschülern und einer Lehrerin zurückkehrt, etwas über Berlin-West und die BRD. Meistens geht es darum, dass die Arbeitslosenzahlen und die Zahl der Drogentoten angestiegen sind. Merkwürdiges Land, von dem ich nicht viel weiß und wohin auch kaum jemand, den ich kenne, in den Urlaub fährt – mit Ausnahme meiner Großmutter. Sie fährt regelmäßig nach Kappeln zu Verwandten, erzählt nie von Drogentoten, sondern bringt immer Unmengen an Kaffee und Schokolade mit. Dass nur sie in den anderen Teil Deutschlands reisen darf, verwundert mich nicht groß. Schließlich ist sie Rentnerin und hat alle Zeit der Welt. Und weder ihr Kaffee noch die Geschichten von den alten Tanten in Kappeln machen mich neugierig. Mein Land zu verlassen, käme für mich nicht in Frage. Das Ende der DDR fällt zusammen mit dem Ende meiner Kindheit. Wäre ich 1989 ein paar Jahre älter gewesen, hätte ich sicherlich noch miterleben müssen, wie sich die Erinnerungen meiner Kindheit mit den Realitäten vermengten, die ich von älteren Freunden und Eltern erst viel später erfuhr: der Studien- und Berufswunsch, der bei Zweifeln an der richtigen (sozialistischen) Gesinnung eventuell abgelehnt worden wäre, der verwehrte Wunsch, nun doch einen Blick hinter die Grenzen der Mauer zu wagen, die Bekanntschaft mit Menschen, deren Kindheit in der DDR durch Ausgrenzung geprägt war, weil sie der Kirche angehörten oder ihre Eltern das Land verlassen wollten, die Erkenntnis, dass die 120-prozentige Planerfüllung an allen Bereichen des öffentlichen Lebens seltsamerweise trotzdem zu großen Bedarfslücken führte. In meiner Klasse war ich beispielsweise die letzte, die ein Telefon bekam, erst ein paar Jahre nach der Wende. Die Ereignisse hinter den Gittern von Hohenschönhausen und die Schüsse an der Mauer auf eine Vielzahl von jungen Menschen waren dann die traurigen Höhepunkte, die mein kindlich verklärtes Bild von der DDR gänzlich zerstörten. Die Wende hat mich wachgerüttelt aus dem polit-utopischen Kindheitsschlaf und hat mich von heute auf morgen erwachsen gemacht. Ich fühlte mich damals betrogen von Ideen, an die ich geglaubt hatte, und nie wieder wollte ich vorbehaltslos einer größeren politischen Gemeinschaft angehören. Meine kritische Einstellung ents Die Dankbarkeit für diesen Umbruch, der mir damals so plötzlich meine Kindheit nahm, verspüre ich nun besonders seit einigen Jahren, auch wenn sich darin eine Spur des Innehaltens mischt, dass nicht alle Menschen aus der DDR die Vereinigung von Ost und West so zufriedenstellt wie mich heute. Unsere Eltern hatten es weitaus schwieriger als wir Kinder von 1989, sich in den neuen Verhältnissen zurechtzufinden. Viele Biografien waren durch die Zeit der DDR so stark geprägt, dass sie sich nicht glücklich in einem neuen deutschen Staat fortführen ließen. R. Brüggemann |