Ein Glück, eine Tragödie!

Wissen Sie, wie viele Personen in einem Theaterstück durchschnittlich mitspielen? Ich weiß es auch nicht. Die Zahl dürfte aber deutlich geringer sein als 10.

Die beiden Lehrer Björn Manthey und Andreas Gunst inszenierten „Das Tagebuch der Anne Frank" von Goodrich und Hackett laut Programmheft mit 29 Schauspielern (und 3 Technikern). Fast alle Rollen sind doppelt oder dreifach besetzt. Hier wurde also nicht nur ein Stück einstudiert, es waren mindestens zwei. Das Anliegen der beiden Kollegen, jeden Schüler, jede Schülerin irgendwie mitwirken zu lassen, der oder die Interesse für das Theater zeigt, wird deutlich. Die Herkulesaufgabe schreckt die beiden offensichtlich nicht ab und verdient große Anerkennung.

Aber Masse statt Klasse? Diese Frage stellt sich der zahlende Zuschauer vielleicht, insbesondere, wenn er nicht mit den Akteuren befreundet oder verwandt ist, wenn er einfach gutes Theater liebt.

Ich hatte die Gelegenheit, einen Teil der Generalprobe zu sehen sowie die Aufführung am 1. Mai, auf die ich mich beziehe.

Die Swing-Kids, das sind die jüngsten Mitspieler, führten im dazugedichteten Vorspiel mit Jimmy Dorsey in die Zeit der Nazi-Herrschaft ein, ein sehr schöner Regieeinfall; Gerrit Gronau als SS-Offizier zeigt dabei gekonnt eine Bedrohung, wie sie Schüler heute glücklicherweise nicht kennen.

Das sehr klare, funktionale schwarz-weiße Bühnenbild, das die gesamte Breite des Raumes im Jochen-Klepper-Hauses einnimmt, zeigt das Wohn- und Schlafzimmer mit integrierter Küche sowie drei geschickt gestaffelte Zimmerchen, in denen 8 Personen mehrere Jahre leben müssen, und wir Zuschauer sitzen eng und dicht fast mit drinnen. Die Notlösung Jochen-Klepper-Haus mit seiner Enge unterstützt den Bühnenraum besser, als unsere Aula es gekonnt hätte.

Die Bewohner des Amsterdamer Hinterhauses dürfen dieses nicht verlassen, sie sind mit ihren Eigenheiten und Besonderheiten darin eingesperrt und müssen miteinander auskommen. Dies sind verschiedene Charaktere und Temperamente, die mit Familienkonflikten, dem Generationenkonflikt, Pubertät und erster Liebe und immer wieder mit der Angst vor dem Entdecktwerden konfrontiert werden, aber nie die Hoffnung verlieren. Innere Handlungen müssen mit ihrer Dynamik sichtbar gemacht werden und den Zuschauer erreichen, berühren, sonst wird's langweilig. Hohe Anforderungen für unsere Theatergruppe, vielen ist mulmig, haben sie doch ihre Schauspielerfahrungen in den letzten Jahren in Komödien gewonnen. Doch sie stellen sich der neuen Aufgabe mutig.

Julian Clement verwandelt sich faszinierend in Herrn van Dussel, einen einsamen, egoistischen, hypochondrischen, wenig sympathischen Einzelgänger, der zwischen den Familien steht.

Für die Familie van Daan belebt Lennart Reinke den Sohn Peter kauzig, komisch, glaubhaft. Kim Sandleben als bebauchter Vater steigert sich im Laufe des Abends in immer mehr Facetten des unglücklichen, egoistischen, aber auch bemitleidenswerten Vaters hinein.

Die Familie Frank besteht aus der Mutter (Simone Schlemm), die wirklich bitter unter ihrer Tochter Anne leidet, der eher ausgeglichenen und zurückhaltend gespielten Schwester Margot (Chantale Rau) auf der einen und dem liebevoll seiner Tochter zugeneigten Vater Otto und seiner Tochter Anne auf der anderen Seite. Otto ist der kultivierte Vater, der die heterogene Wohngemeinschaft zusammenhält, eine Autorität, die klug vermittelt und liebevoll Anne unterstützt. Olaf Conrad zeigt alle diese Seiten sensibel, manchmal zaghaft, aber immer überzeugend. Bewundernswert auch sein Spiel der bleischweren Schlussszene, in der er den alten, gebrochenen Vater ohne jede Hoffnung geben muss.

Die wohl anspruchsvollste Rolle ist die der pubertierenden Anne, um die das Stück herum gebaut ist. Elisabeth Holzer ist dieser Aufgabe mehr als gewachsen. Als Anne ist sie voller Lebensfreude, manchmal traurig, kindlich, neugierig und im nächsten Moment fast erwachsen, sprunghaft, mit einer unbändigen Lebenslust, die die Grenzen der Wohnung mit Fantasie überwindet. Elisabeths packende Lust am Spiel verleiht Anne Frank Flügel. Der Zuschauer ist fasziniert und begeistert und beim bitteren Ende umso tiefer getroffen. Elisabeth ist ein Ausnahmetalent, wie es nicht in vielen Jahrgängen vorkommt, und vermag es, ihre Mitschüler mitzureißen (Dasselbe ist -seltsamer Zufall- übrigens über Nora Kneifel in der Rolle der Anne zu sagen, die in der Parallelbesetzung spielt!)

Eine atmosphärisch dichte Inszenierung ist hier erarbeitet worden, die mit musikalischen Einspielungen und Geräuschen, mit ausgeklügelter Lichtregie oder mit dem Einfrieren von Szenen beim Tagebuchschreiben die Zuschauer fesselt. Der Spannungsbogen wird fast durchgehend gehalten, nur nach der Pause kommt es zu kleinen Längen. Fast allen Akteuren ist es gelungen, uns in die verstörende Geschichte mitzunehmen. Die Tragödie, so wie Ihr sie gezeigt habt, hat uns berührt, das war Klasse im Schultheater! Bitte mehr davon im nächsten Jahr!

J. Breuer

 

Vielen Dank an Thomas Krenz für die Erlaubnis zur Veröffentlichung aller Bilder.